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AutorenbildSilvan Brun

Polyphenole im Olivenöl. Warum man sie streng genommen gar nicht nachweisen kann.


Hochleistungsflüssigkeitschromatograph - unaussprechlich und nichts beweisend in der Olivenölanalytik (Bild: AdobeStock)
Hochleistungsflüssigkeitschromatograph - unaussprechlich und nichts beweisend (Bild: AdobeStock)

Je mehr Polyphenole, desto besser das Öl. Das ist der Glaube unter den Olivenölkennern. Doch, wir müssen anerkennen, dass die Verfahren zur Ermittlung einer behaupteten Polyphenolkonzentration auf Annahmen beruhen und im eigentlichen Sinne des Wortes Nachweis eben gerade nichts nachgewiesen werden kann.

Der Anblick eines frischen Olivenöls - grün und betörend in seiner Farbe - lässt das Herz jedes Kenners höher schlagen: Ein satter pflanzlich-grüner Duft, ein vollmundiger Geschmack, ganz ohne ölig zu wirken, eine deutlicher Bitterkeit und scharfe Noten, die auf der Zunge prickeln und im Hals nachbrennen. Die Degustation eines frischen Olivenöls ist ein wunderbares Erlebnis.


Wer zum ersten mal echtes Extra Vergine kostet, erschrickt oder ist zumindest schwer beeindruckt. Mitverantwortlich für dafür sind die sogenannten Polyphenole, die im Olivenöl behauptet werden. Diese Polyphenole gelten als die unbestrittenen Helden der Olivenölwelt – als Antioxidantien, die nicht nur das Öl selber vor Oxidation schützen, sondern auch unsere Gesundheit fördern sollen. Je bitterer und schärfer ein Öl, so das allgemeine Verständnis, desto höher sein Polyphenolgehalt und folglich desto höher auch seine antioxidative Kraft.


Doch, was wissen wir wirklich über den Polyphenolgehalt? Klar ist, die meisten Kenner - 99 Prozent der Öl-Erzeuger eingeschlossen - beziehen sich auf eine Zahl, die im Analysebericht stellvertretend für die antioxidative Kraft des Olivenöls steht. Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit EFSA anerkennt die im Olivenöl behaupteten Polyphenole als "zum Schutz der Blutfette vor oxidativem Stress beitragend", sofern das Olivenöl pro 20 Gramm seiner Masse mindestens 5 Milligramm einer Verbindung namens Hydroxytyrosol oder höhere Verbindungen des Oleuropein- oder des Ligstrosidkomplexes enthält. Mit anderen Worten: Will ein Vermarkter das von ihm feilgebotene Olivenöl mit der gesundheitsbezogenen Angabe "Olivenölpolyphenole schützen die Blutfette vor oxidativem Stress" ausloben, muss das entsprechende Olivenöl eine Mindestlast an Polyphenolen von 250 Milligramm pro Kilo aufweisen.


EFSA-Register für gesundheitsbezogene Angaben - hier: Olivenölpolyphenole (Bild: Screenshot EFSA)
EFSA-Register für gesundheitsbezogene Angaben - hier: Olivenölpolyphenole (Bild: Screenshot EFSA)

250 mg Polyphenole sind bereits ordentlich viel. Ein solches Öl zeigt in der Regel in der sensorischen Analyse eine gewisse Schärfe und je nach Olivensorte gar eine Bitterkeit. In Zeiten von Superfoods und Nahrungsergänzungsmitteln ist es zum Trend geworden, Olivenöle mit möglichst hohem Gehalt an Polyphenolen zu erzeugen. Sogar eigens hierfür eingerichtete Olivenölwettbewerbe werden ausgetragen. Ganz nach dem Motto: Schneller, weiter, höher, grösser, mehr und so weiter - Sie wissen schon. Einige Elixiere erreichen in der Analytik gar Werte um 1'000 mg oder sogar deutlich darüber. Vielfach handelt es sich dabei um Olivenöle, die in der täglichen Anwendung keinen Platz finden und die für spezielle Gerichte eingesetzt werden. Auch frittieren kann man mit solchen Ölen meist nicht, denn die frittierten Gerichte werden oft sehr bitter, was nun mal wirklich niemandem schmeckt.


Mit dem Polyphenolgehalt, der antioxidativen Kraft des Olivenöls und der womöglich damit zusammenhängenden gesundheitsfördernden oder -erhaltenden Konsequenz wird gerne Werbung gemacht. Von Olivenölerzeugern wie auch von Händlern. Einer, der quasi beides in einem vereint, wobei er zwar nicht Müllner aber immerhin familieneigene Oliven zu Öl verarbeiten lässt, ist der Betrieb Food for Health aus Genf. Sein Produkt "Olixir" bewirbt er mit dem Slogan "Science by Nature" (zu Deutsch "Wissenschaft durch die Natur") und gibt an, dass die in seinem Olivenöl enthaltenen Antioxidantien "herzgesund" seien - obschon sein Öl gemäss Laboranalyse, die er auf seiner Webseite veröffentlicht, mit 218 mg weniger als die Mindestmenge von 250 mg an ebensolchen Polyphenolen enthält.


Die Wissenschaft stützt sich auf Hypothesen

Doch, wie sicher sind diese Labor-Analysen, denen wir unser Vertrauen schenken, und inwieweit können wir tatsächlich „nachweisen“ - also genau so, wie es das Wort meint -, was im Olivenöl enthalten ist? Auch wenn die Wissenschaft bestrebt ist, exakte Daten zu liefern, zeigt sich bei genauem Hinsehen: Die Methoden zur Bestimmung der Polyphenole – wie das Folin-Ciocalteu-Verfahren oder die Hochleistungsflüssigkeitschromatographie (HPLC) – sind höchstens Annäherungen, und vielleicht nicht mal das. Sie liefern uns chemische Indikatoren, aber keinen endgültigen Beweis für die Existenz von spezifischen Verbindungen. Ihre Ergebnisse sind bestenfalls fundierte Hypothesen, die aus indirekt ermittelten Daten abgeleitet werden und in der strengen wissenschaftlichen Betrachtung das Wort „Nachweis“ nicht verdienen. Tatsächlich ist es gerade dieser Punkt, an dem sich die Faszination und die Grenzen wissenschaftlicher Methoden im Bereich Olivenöl offenbaren.


Im Folgenden werfen wir einen genauen Blick auf die beiden Hauptmethoden zur behaupteten Bestimmung von Polyphenolen im Olivenöl und beleuchten, warum ihre Ergebnisse immer mit einem mehr oder weniger grossen Vorbehalt zu geniessen sind.


1. Die Folin-Ciocalteu-Methode: Ein unspezifisches Messverfahren

Die Folin-Ciocalteu (FC)-Methode ist eine der ältesten und am weitesten verbreiteten Methoden zur Bestimmung des sogenannten „Gesamtphenolgehalts“ in Olivenöl. Das Prinzip dieser Methode ist einfach: Ein chemisches Reagenz, das Molybdän- und Wolframoxide enthält, wird zu einer Probe gegeben. Und es kann nicht ausgeschlossen werden, dass diese Oxidationsmittel die ursprünglichen im zu analysierenden Öl enthaltenen Verbindungen beeinflusst, verändert oder gar zerstört. Auf jeden Fall zeigt dieses Reagenz eine Farbänderung (zu Blau), wenn es mit Substanzen in Kontakt kommt, die reduzieren können. Je stärker die Farbe, desto mehr „reduzierende Substanzen“ scheint das Öl zu enthalten.


Doch hier beginnt bereits die erste grosse Einschränkung:

  • Keine Differenzierung zwischen Substanzen: Das Folin-Ciocalteu-Reagenz reagiert mit jeder Substanz, die behauptet Elektronen abgibt. Dies sind nicht nur Polyphenole, sondern vermutlich auch andere antioxidative Verbindungen wie die Ascorbinsäure oder bestimmte Aminosäuren, falls sie in der Probe vorhanden wären. Das bedeutet, dass die Methode keine Unterscheidung trifft: Alles, was die Farbentwicklung bewirkt, was auch immer es ist, trägt zum vermeintlichen „Polyphenolgehalt“ bei.

  • Der Begriff „Gesamtphenolgehalt“ ist irreführend: Tatsächlich ist das Ergebnis der FC-Methode oft ein Mix aus behaupteten Polyphenolen und anderen reduzierenden Substanzen. Das Endergebnis wird meist in „Gallic Acid Equivalents“ (GAE) angegeben, als ob die Messung eine reine Polyphenolkonzentration widerspiegelt. Doch das ist weit gefehlt, denn die Methode kann nicht zwischen spezifischen Polyphenolen und anderen Stoffen differenzieren. Und, obwohl die Ergebnisse als „Gallussäure-Äquivalente“ angegeben werden, ist das nicht als Angabe über den tatsächlichen Gehalt an Gallussäure zu verstehen, sondern lediglich als Vergleichsmassstab zur Bestimmung des gesamten vermuteten antioxidativen Potentials von behaupteten Polyphenolen im Olivenöl.


Der Gesamtphenolgehalt ist also ein Indikator (mehr nicht) für die vermutete antioxidative Kapazität des Öls, aber er sagt uns nichts darüber, welche Polyphenole enthalten sind – geschweige denn, in welchen Mengen.


2. HPLC – Hochleistungsflüssigkeitschromatographie: Indirektes Verfahren, das ebenfalls auf Annahmen basiert

Im Vergleich zur FC-Methode gilt die Hochleistungsflüssigkeitschromatographie (HPLC) als weitaus spezialisierter und präziser. HPLC erlaubt es, die einzelnen Verbindungen (Polyphenole) in einer Ölprobe zu trennen und deren Mengen zu bestimmen. Die HPLC-Methode basiert darauf, dass jedes Molekül charakteristische Eigenschaften hat – eine Art „chemischen Fingerabdruck“ –, durch den es in der Trennsäule unter kontrollierten Bedingungen isoliert wird. Dieser Fingerabdruck umfasst die Retentionszeit (wie lange die Verbindung in der Säule verbleibt) und das Absorptionsspektrum (die spezifische Lichtwellenlänge, bei der die Verbindung absorbiert).


Doch auch hier gilt: Der Nachweis bleibt unerreichbar.

  • Vergleich mit Standards: Die HPLC-Ergebnisse beruhen auf einem Vergleich der Retentionszeiten und Absorptionsspektren mit denen von chemischen Standards, die die angeblich reinen Verbindungen wie Oleuropein, Oleuropein-Aglycon oder Hydroxytyrosol repräsentieren. Das Problem? Nur Verbindungen, die exakt mit dem Standard übereinstimmen, können eindeutig bestimmt werden. Ähnliche, aber nicht identische Moleküle könnten ähnliche Signale erzeugen und so die Ergebnisse verfälschen.

  • Indirekter „Nachweis“: Der Begriff „Nachweis“ suggeriert, dass wir definitiv wissen, dass genau Oleuropein-Aglycon oder Hydroxytyrosol in einer Probe enthalten ist. Doch HPLC zeigt uns lediglich, dass wir Signale haben, die mit diesen Standards übereinstimmen – wir nehmen an, dass es sich um die gesuchten Polyphenole handelt. Es bleibt also eine Annahme, keine absolute Gewissheit.


3. Der Prozess der Hypothesenbildung in der Polyphenol-Analyse

Ein weiterer Punkt der Unsicherheit ergibt sich aus der Abbaukaskade der Polyphenole. Verbindungen wie Oleuropein können durch Hydrolyse in Oleuropein-Aglycon übergehen, das dann zu Hydroxytyrosol abgebaut wird. Aber auch dieser Prozess ist theoretisch – er beruht auf Annahmen, die durch chemische Experimente und beobachtbare Reaktionsmuster unterstützt werden. Man geht davon aus, dass sich Polyphenole in Olivenöl so verhalten. Doch ein tatsächlicher „Beweis“ fehlt, da wir den molekularen Ablauf dieser Umwandlungen nicht direkt beobachten können.


Jede Hypothese, ob zur chemischen Struktur der Polyphenole oder zu deren Abbaukaskade, basiert auf Interpretationen von indirekten Daten, die durch wiederholte Experimente gestützt werden. Doch keiner dieser Schritte wird live „gesehen“ – sie werden als Modelle verwendet, die das beobachtete Verhalten der angeblichen Verbindungen erklären soll.


Gleich verhält es sich übrigens mit der Analyse der im Olivenöl angeblich enthaltenen Fettsäuren. Ob gesättigt, einfach ungesättigt oder mehrfach ungesättigt - die Fettsäuren können nicht beobachtet werden, sondern werden über indirekte Verfahren "bestimmt". Das ist "zulässig", weil sich die Wissenschaft darauf geeinigt hat, dass man es eben so macht.


4. Schärfe und Bitterkeit: Hinweise, kein Beweis

Scharfe und bittere Noten in Olivenöl lassen darauf schliessen, dass „etwas“ enthalten ist, das diese sensorischen Eigenschaften verursacht. Die wissenschaftliche Annahme lautet, dass es die Polyphenole sind, die für diese Schärfe und Bitterkeit verantwortlich sind, und chemische Analysen unterstützen diese These. Aber die Aussage, dass genau Oleuropein-Aglycon oder Hydroxytyrosol für diese Wahrnehmung verantwortlich sind, ist letztlich ein Modell, das wir aufgrund bisheriger Daten lediglich als wahrscheinlich annehmen. Doch die Schärfe oder Bitterkeit in Olivenöl als „Beweis“ für spezifische Polyphenole zu werten, ist unseriös und wissenschaftlich unzulässig.


Hypothesen werden der Olivenölwelt als Realität verkauft

Sowohl die FC-Methode als auch die HPLC-Analyse sind wertvolle Werkzeuge, die uns Annäherungen liefern können, doch sie bleiben indirekte Methoden und beruhen auf Annahmen. Streng genommen können wir daher von keinem „Nachweis“ sprechen, sondern nur von Hypothesen, die durch chemische Reaktionen und Vergleichsdaten gestützt werden. Das macht unsere Erkenntnisse über die angeblichen Polyphenole wertvoll und fraglich zugleich. Und, es erinnert uns daran, dass wir uns in der Wissenschaft vielfach in einem Hypothesenraum bewegen. Die Vorstellung, dass die chemische Struktur der Polyphenole und ihre Anwesenheit absolut gesichert sind, ist letztlich ein Ideal, das wir nicht erreichen können. Und trotzdem verkauft uns die Wissenschaft, die von ihr ermittelten Resultate als Realität.


Was Olivenölanalysen betrifft, ist es die Hypothese, die unser Verständnis für das grüne Gold vorantreibt. Was wir messen, interpretieren wir; was wir daraus zu glauben wissen, bleibt eine Annahme. Genau deshalb ist unsere eigene Sensorik ein wichtiges Instrument - es täuscht uns nicht, auch nicht bei der Olivenölanalyse. Wir nehmen Fruchtigkeit, Bitterkeit, Schärfe, vielleicht sogar negative Attribute wie Ranzigkeit oder Fermentationsnoten wahr, ganz gleich, welche Verbindungen für die jeweiligen Ausprägungen verantwortlich sind.

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